Die Stadt der träumenden Bücher: Ein Roman aus Zamonien
Pressestimmen »Eine einzige Liebeserklärung an das Lesen.«, TV hören und sehen Published On: 2016-12-09 Über den Autor und weitere Mitwirkende Walter Moers, 1957 in Mönchengladbach geboren, ist der Erfinder des »Käpt'n Blaubär« und hatte auch große Erfolge mit den Büchern um »Das kleine Arschloch« und der Comic-Figur »Adolf«. 1999 stürmte der Roman »Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär« die Bestsellerlisten. Dem folgten inzwischen mehrere sehr erfolgreiche Romane nach, die ebenfalls auf dem phantastischen Kontinent Zamonien spielen. Leseprobe. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten. Erster Teil Danzelots Vermächtnis In tiefen, kalten, hohlen RäumenWo Schatten sich mit Schatten paarenWo alte Bücher Träume träumenVon Zeiten, als sie Bäume warenWo Kohle Diamant gebiertMan weder Licht noch Gnade kennt Dort ist's, wo jener Geist regiertDen man den Schattenkönig nennt Eine Warnung Hier fängt die Geschichte an. Sie erzählt, wie ich in den Besitz des Blutigen Buches kam und das Orm erwarb. Es ist keine Geschichte für Leute mit dünner Haut und schwachen Nerven – welchen ich auch gleich empfehlen möchte, dieses Buch wieder zurück auf den Stapel zu legen und sich in die Kinderbuch-Abteilung zu verkrümeln. Husch, husch, verschwindet, ihr Kamillenteetrinker und Heulsusen, ihr Waschlappen und Schmiegehäschen, hier handelt es sich um eine Geschichte über einen Ort, an dem das Lesen noch ein echtes Abenteuer ist! Und Abenteuer definiere ich ganz altmodisch nach dem Zamonischen Wörterbuch: »Eine waghalsige Unternehmung aus Gründen des Forschungsdrangs oder des Übermuts; mit lebensbedrohlichen Aspekten, unberechenbaren Gefahren und manchmal fatalem Ausgang.« Ja, ich rede von einem Ort, wo einen das Lesen in den Wahnsinn treiben kann. Wo Bücher verletzen, vergiften, ja, sogar töten können. Nur wer wirklich bereit ist, für die Lektüre dieses Buches derartige Risiken in Kauf zu nehmen, wer bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um an meiner Geschichte teilzuhaben, der sollte mir zum nächsten Absatz folgen. Allen anderen gratuliere ich zu ihrer feigen, aber gesunden Entscheidung, zurückzubleiben. Macht’s gut, ihr Memmen! Ich wünsche euch ein langes und sterbenslangweiliges Dasein und winke euch mit diesem Satz Adieu! So. Nachdem ich meine Leserschaft gleich zu Beginn wahrscheinlich auf ein winziges Fähnlein von Tollkühnen reduziert habe, möchte ich die Übriggebliebenen herzlich willkommen heißen – seid gegrüßt, meine waghalsigen Freunde, ihr seid aus dem Holz, aus dem man Abenteurer schnitzt! Dann wollen wir auch keine Zeit mehr verlieren und unverzüglich mit der Wanderung beginnen. Denn eine Reise ist es, auf die wir uns begeben, eine antiquarische Reise nach Buchhaim, der Stadt der Träumenden Bücher. Schnürt eure Schuhe fest, es geht ein langes Stück des Weges auf felsigem, unebenem Grund, dann durch eintöniges Grasland, in dem die Halme dicht, hüfthoch und messerscharf stehen. Und schließlich auf düsteren, labyrinthischen und gefährlichen Pfaden tief hinab, hinab in die Eingeweide der Erde. Ich kann nicht vorhersehen, wie viele von uns zurückkehren werden. Ich kann euch nur empfehlen, den Mut nie sinken zu lassen – was immer auch uns widerfährt. Und sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! Nach Buchhaim Ist man im westlichen Zamonien auf der Hochebene von Dull in östlicher Richtung unterwegs, und sind die wogenden Grasmeere endlich durchschritten, erweitert sich plötzlich der Horizont auf dramatische Weise, und man kann endlos weit blicken, über eine flache Landschaft, die in der Ferne in die Süße Wüste übergeht. Im spärlich begrünten Ödland kann der Wanderer bei gutem Wetter und dünner Luft einen Fleck erkennen, der schnell immer größer wird, wenn er zügig daraufzumarschiert. Der dann kantige Formen annimmt, spitze Dächer bekommt und sich schließlich als jene legendenumrankte Stadt entpuppt, die den Namen Buchhaim trägt. Schon von weitem kann man sie riechen. Sie riecht nach alten Büchern. Es ist, als würde man die Tür zu einem gigantischen Antiquariat aufreißen, als würde sich ein Sturm aus purem Bücherstaub erheben und einem der Moder von Millionen verrottender Folianten direkt ins Gesicht wehen. Es gibt Leute, die diesen Geruch nicht mögen, die auf dem Absatz kehrtmachen, wenn er ihnen in die Nase steigt. Zugegeben, es ist kein angenehmer Geruch, er ist hoffnungslos unmodern, er hat mit Zerfall und Auflösung zu tun, mit Vergänglichkeit und Schimmelpilzen – aber da ist auch noch etwas anderes. Ein leichter Anflug von Säure, der an den Duft von Zitronenbäumen erinnert. Das anregende Aroma von altem Leder. Das scharfe, intelligente Parfüm der Druckerschwärze. Und schließlich, über allem, der beruhigende Geruch von Holz. Ich rede nicht von lebendem Holz, von harzigen Wäldern und frischen Fichtennadeln, ich rede von totem, entrindetem, gebleichtem, gemahlenem, gewässertem, geleimtem, gewalztem und beschnittenem Holz – kurz: von Papier. Oh ja, meine wißbegierigen Freunde, ihr riecht ihn jetzt auch, diesen Duft, der euch an vergessenes Wissen und uralte handwerkliche Traditionen erinnert. Und nun könnt ihr den Wunsch, so bald wie möglich ein antiquarisches Buch aufzuschlagen, kaum noch unterdrücken, nicht wahr? Also beschleunigen wir unseren Marsch! Mit jedem Schritt auf Buchhaim zu wird der Geruch intensiver und verlockender. Immer deutlicher können wir die spitzgiebeligen Häuser ausmachen, Hunderte, Tausende von schlanken Kaminschloten ragen aus den Dächern empor, verdunkeln mit ihrem fetten Qualm den Himmel und fügen dem Geruch der Bücher noch andere Aromen hinzu: von frischgebrühtem Kaffee, von gebackenem Brot, kräutergespicktem Fleisch, das über Holzkohle brutzelt. Unser Tempo verdoppelt sich ein weiteres Mal, und zu dem brennenden Wunsch, ein Buch aufzuschlagen, gesellt sich der nach einer heißen Tasse Zimtkakao und einem Stück ofenwarmem Sandkuchen. Schneller! Schneller! Schließlich erreichen wir die Stadtgrenze, müde, hungrig, durstig, neugierig – und ein bißchen enttäuscht. Es gibt keine eindrucksvolle Wehrmauer, kein bewachtes Tor – etwa in Form eines riesigen Buchdeckels, der sich auf unser Klopfen knarzend öffnet – nein, es gibt nur ein paar enge Straßen, auf denen eilige Zamonier verschiedenster Daseinsformen die Stadt betreten oder verlassen. Und die meisten tun es mit einem Stapel Bücher unter dem Arm, manche ziehen ganze Karren davon hinter sich her. Ein Stadtbild wie jedes andere, wenn nicht all diese Bücher wären. Da sind wir also, meine wagemutigen Weggefährten, an der magischen Grenze von Buchhaim – hier ist es, wo die Stadt recht unspektakulär beginnt. Sogleich werden wir ihre unsichtbare Schwelle überschreiten, sie betreten und ihre Mysterien erforschen. Sogleich. Doch zuvor möchte ich kurz innehalten und berichten, aus welchen Gründen ich mich überhaupt auf den Weg hierher begeben habe. Jede Reise hat ihren Anlaß, und meiner hat mit Überdruß und jugendlichem Leichtsinn zu tun, mit dem Wunsch, aus den gewohnten Verhältnissen auszubrechen und das Leben und die Welt kennenzulernen. Außerdem wollte ich ein Versprechen einlösen, das ich einem Sterbenden gegeben hatte, und nicht zuletzt war ich einem faszinierenden Geheimnis auf der Spur. Aber der Reihe nach, meine Freunde! Auf der Lindwurmfeste Wenn ein junger Lindwurmfestebewohner* ins lesereife Alter eintritt, bekommt er von seinen Eltern einen sogenannten Dichtpaten zugeordnet. Das ist meist eine Person aus der Verwandtschaft oder dem engeren Freundeskreis, welche von diesem Augenblick an für die schriftstellerische Erziehung des jungen Dinosauriers verantwortlich ist. Der Dichtpate bringt dem Zögling Lesen und Schreiben bei, führt ihn an die zamonische Dichtkunst heran, gibt Lektüreempfehlungen und lehrt ihn das Schriftstellerhandwerk. Er hört ihm Gedichte ab und bereichert seinen Wortschatz – und so weiter und so fort, lauter Maßnahmen also, die für die künstlerische Entwicklung seines Patenkindes nützlich sind. Mein Dichtpate war Danzelot von Silbendrechsler. Er war bei der Annahme der Patenschaft schon über achthundert Jahre alt, Lindwurmfeste-Urgestein, ein Onkel aus der Familie meiner Mutter. Onkel Danzelot war ein solider Verseschmied ohne höhere Ambitionen, er dichtete auf Bestellung, vorwiegend Elogen für festliche Zwecke, außerdem galt er als begnadeter Tisch- und Grabredentexter. Eigentlich war er mehr ein Leser als ein Schriftsteller, mehr Genießer von Literatur als Urheber. Er saß in unzähligen Preisgremien, organisierte...
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